Zwischenstand: 8 zu 116 – für Gütersloh

Mein Praktikum bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh hat begonnen, mir raucht der Kopf.
Die erste Woche habe ich erfolgreich überstanden, also eine guter Anlass, das Erlebte festuzuhalten, denn ab nächsten Montag darf ich das Leben in der geistigen Oase mitten in der ostwestfälischen Wüste in vollen Zügen (weiter-)genießen.
Ich bin ja eigentlich ein Freund der Bahn, so wie ich auch einer der größten Freunde Amerikas bin dich ich kenne. Aber in der gleichen Art wie Deutschland von Herrn Rumsfeld neue Freunde in Kuba und Lybien zugedacht bekommt habe ich mich durch die Erlebnisse der letzten Woche damit „abgefunden“, die nächsten drei Monate auf die 116 Minuten (täglich, pro Richtung; Wochenpreis: 69 € zzgl. Bustickets) in der Obhut der Deutschen Bahn und ihrer Töchter und Nebenbuhler zu verzichten und lieber ein 8 qm – Zimmer zu beziehen (Monatspreis 115 €)
[verzeiht die Klischees]
Lybische Verhältnisse in Bus und Bahn (alles bombenvoll und nicht einmal 5 Minuten Ruhe), gepaart mit kubanischer Zuverlässigkeit (was sind schon 30 Minuten Verspätung) möchte ich dann doch nur in bestimmten Momenten haben: bei meinem Kuba-Urlaub oder auf Studienreise durch Lybien.
Am ersten Tag Praktikum war ich da noch zuversichtlicher. Denn zuallererst hatte ich es tatsächlich geschafft pünktlich aufzustehen. Um fünf Uhr morgens sieht die Welt noch so unschuldig aus, dass die Erwartung an das, was da um 9 Uhr beginnen soll durchweg positiv war.
Alles perfekt getimed, also rein in die Straßenbahn. Während draußen der Schnee fällt wird es drinnen nicht wirklich warm. Aber die Bahn fährt.
Als plötzlich die Bahn im Nirgendwo auf der Strecke stehenbleibt bahnt sich über den Lautsprecher eine Stimme den Weg, um über das Zusammentreffen menschlicher Schicksale mit den Urgewalten der Natur zu berichten, was in dieser Form von der Technikfolgenabschätzung des elektrifizierten Schienennahverkehrs nicht berücksichtigt werden konnte. „Durch ein auf den Schienen liegengebliebenes Auto unsere Fahrt unterbrechen müssen.“ Höhnisch fügte sie hinzu, dass wir „In wenigen Minuten“ die Fahrt wieder aufnähmen.
Scheinbar nur um _mich_ zu ärgern wiederholte die Chaosstimme diese Botschaft für jeden der 4 Anwesenden, die das ganze nicht zu stören schien. Im Abstand von fünf Minuten.
Gut, dass ich genug Zeit zum umsteigen eingeplant hatte. Doch als wir weiterfuhren waren diese 25 Minuten aufgebraucht.

Wie durch ein Wunder, oder auch durch den Kaffee in Nikos Küche, die zwar in einer miesen Gegend aber halt doch gleich am Bahnhof liegt, musste ich nicht ewig in der Kälte des frisch renovierten und charakterlosen Umsteigebahnhofs warten.
Frühstück im Zug Eine Stunde später darf ich den Komfort eines ICE genießen, während dieser verfolgt wird von einem IC mit gleichem Fahrziel, gleicher Fahrzeit und den gleichen Zwischenstopps. Das hatte mir die Bahnauskunft verschwiegen und freudigst den 2e-Aufpreis kassiert.
98 Minuten später habe ich tatsächlich einen Fuss auf Gütersloher Bahnhofsbeton gesetzt, und mir blieben noch 11 Minuten zum Ziel.
Nach einem ausgiebigen Stadtrundgang nutzte ich die verbleibenden 10 1/2 Minuten, um einen Bus zu finden, der mich zu Bertelsmann bringt. Die Haltestelle habe ich gefunden, den Bus auch. Nur wollte dieser die Haltestelle Gütersloh Haupt(!!!)bahnhof erst nach Ablauf von 43 Minuten verlassen.
Schnee fiel dekorativ auf die Bürgersteige und verbarg die darunterliegenden Eisschollen. Fast schien es so, als würden sie sich mit lautem Knall mit dem Boden verbinden, aber das mag auch der blendende Effekt der Blitze gewesen sein, die nicht nur direkt auf den Flockenklang folgte, sondern auch das plötzliche Gewitter oberhalb meiner Wollmütze und über der ganzen, äh, Siedlung, ankündigte.
Wie der bisherige Tag so von Glück beseelt war konnte ich alsbald einen netten Taxifahrer dafür gewinnen, mich zur Stiftung zu fahren. Zu einem Minutenpreis von 1€ wollte dieser mich wiederum für die Ansicht gewinnen, dass er, der „auch mal in Berlin war“ Recht habe dass Gütersloh doch viel schöner sei. Vor meiner Antwort mußte ich leider schon wieder aussteigen und händigte den Lohn für die 8-Minutenfahrt wortlos aus.

Rein in den Palast der geistigen Elite. Ich war tatsächlich pünktlich. Es war 09 Uhr.

Drinnen wurde ich empfangen von meinem Vorgänger, der mich, nach der Information das sonst noch niemand da sei, ersteinmal in die wichtigsten Alltagsgeheimnisse einwies.
Kaffee ist hier umsonst, und eine Etage höher ist er sogar richtig gut.
Eine Tassenladung später trudelten dann auch Vertreter der lenkenden Hierarchiestufe ein, so dass ich mich auch hier begrüßt fühlte.

Harry (mein Vorgänger) erzählte mir bei der zweiten Tasse alles, was ich demnächst wissen müsste: die laufenden Projekte (Informationsfreiheit, Public-Private-Partnership), die anstehenden Veranstaltungen (IFG-Workshop, IFG-Konferenz, PPP-Studie) sowie etliche anderen Info-Fetzen, die ich aber auch immer noch erfragen könne wenn nötig. Was es auch war.
Zwischendurch musste ich echt zweifeln ob ich da irgendwo einen Fuss auf den Boden bekommen würde. Ausgestattet mit einer konzerneigenen eMail-Adresse und der Kenntnis der lokalen Ordnerstrukturen (zumindest didaktisch ein sinnvolles Konzept!) ging es weiter auf Tour durch den Glasbau. Wie mir schien hatte sich Harry wohl häufiger mal „verlaufen“ in der Stiftung, so dass ich von jedem Punkt aus erklären sollte, wie ich zurück komme.

Kaum hatte ich das erste Neue verdaut ging es weiter, im großen Praktikantenpulk „rüber in die AG“, zum Essen. Ein großes Stück Fleisch später noch einen Cappuccino in der Cafeteria getrunken, aus den gleichen Geräten wie „eine Etage höher“, diesmal aber für Geld und aus Cappuccino-Tasse. Zwischendurch das Erstaunen, dass ich sowohl angekündigt war (also dass ich quasi erwartet wurde) als auch dass meine Ankunft mit Informationen über mich gespickt wurde. So musste ich gar nicht viel erzählen und konnte all meine Energie darauf verwenden, kramphaft zu versuchen mir all die Namen irgendwie zu merken.
Der Rest des Tages bestand aus lesen. Insgesamt dürfte ich diese Woche mehr Buchstaben aufgesogen haben als im gesamten letzten Semester. Dabei immer wieder gerne genommen: die Rückfahrt.

Froh, dass ich _vorher_ nach dem Standort der Bushaltestelle gefragt habe, reihte ich mich dort bei den Wartenden ein. Die Zeit verging wortlos, und irgendwann bequemte sich auch der Bus am Horizont zu erscheinen. In der Zwischenzeit hatte ich den ersten Zug schon wieder verpasst.
Am Bahnhof hatte ich dafür aber genug Zeit, um Rechenmodelle zu diskutieren um mich dann letztlich doch für eine Wochenfahrkarte zu entscheiden. Das erste Mal seit langem überkam mich das Gefühl, dass ich mich am Bahnschalter gut beraten habe.

Berge in der Ferne, sonst bewegt sich hier nichts Heimwärts ging es, diesmal ohne Zwischenfälle. Tags darauf hatte ich der Bahn dann ein Schnippchen geschlagen. Eine Stunde länger schlafen, denn in den Tiefen von Gütersloh hatte ich eine Buslinie aufgetan, die mich auch zur Stiftung bringt, nur halt auf die andere Seite (verbunden mit einem Fussweg vor einer Kulisse, die in jedem Naturfilm auftauchen könnte!).
Auf dem Bahnsteig schloss ich mich der Verfolgergruppe an, die sich lieber hinter den ICE hängte (im IC natürlich) und etwas (… naja) Geld sparte.
In der Stiftung sog ich weiter Informationen auf bis der Kopf dröhnte, und an den Koffeinpegel hatte ich mich auch bald gewöhnt ;-)
Der Lichtblick, für einen Tag nach Berlin zu fahren stand mir ja noch bevor. In der Hauptstadt angekommen hatte ich dann tatsächlich eine Träne im rechten Augenwinkel als ich mich den Blick über die Stadt hingab. Aber half ja alles nichts, ich musste eine Klausur schreiben am nächsten Morgen. Also bis 3 Uhr noch gelernt, am nächsten Tag dann 2 Stunden Handgelenk-Zerstörung durch Schnellschreiben betrieben, und nach einem anregenden Vortrag von Thomas Anders über den „Mensch als Marke“ wieder in die alte Heimat.

Bei dieser Aussicht auf die Autobahnabfahrt Gütersloh überlegt man sich schon 2mal, ob man mit der Bahn fahren sollte Unerwarteterweise hat sich zumindest die Bahn in den nächsten Tagen mit ihrer Pünktlichkeit angestrengt, so dass ich es fast nett gefunden hätte, jeden Morgen zu pendeln. Allerdings ist es extrem nervenaufreibend, an der Bushaltestelle zu stehen und zu bangen: kommt der Bus, kommt er nicht? Und scheinbar haben sich die ÖPNV-Anbieter zusammengetan in der Annahme, dass, wer schon lange in der Kälte stehend auf den Bus warten kann auch gerne noch einige Zeit in einer überfüllten Bahn nach Hause steht.
Da stoße ich mir lieber beim aufstehen den Kopf in meinem kleinen Zimmerchen und genieße es, mich nicht fragen zu müssen, ob ich den zur Verfügung stehenden Platz optimal ausnutze – ist ja eh keiner da.

Die letzte Woche insgesamt reüssierend kann ich nur festhalten, dass ich zum Glück völlig vorurteilsfrei nach Gütersloh gekommen bin und nie dachte, dass es dort ähnlich öde wie in der Wüste sei.
Außerdem denke ich jetzt schon daran, mein nächstes Praktikum in unseren neuen Bruderländern Kuba oder Lybien zu absolvieren. Einen westlichen Pseudo-Großstädter wie mich kann da auch nichts mehr schocken.

Film: /film/Hannover-Guetersloh-Hannover.html
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