Neues Deutschland über die Wahl Gang und den Wahl-O-Mat

„Das Vorbild für den �Wahl-o-mat� ist der �Stemwijzer�, der in Holland in nicht-digitaler Form bereits seit nahezu 30 Jahren zur Wählerorientierung benutzt wird. �Die Parteien werden so gezwungen, sich klipp und klar zu bestimmten Fragen zu äußern�, fasst Klas Roggenkamp, der die deutsche Version für die �Wahl-Gang� programmiert hat, die Vorteile dieses �Tools� zusammen.
der Artikel im Volltext


erschienen am 06.09.2002 in Neues Deutschland

Infopäckchen im Rucksack
Von Velten Schäfer

Ansage von Angesagten: Plakat mit Sara Kuttner
Faksimile: Wahl-Gang (Ausschnitt)

Mehr als Internet, Popstars, SMS: Die Initiative �Wahl-Gang� will Jugendliche für Politik interessieren, ohne dabei die Inhalte aus den Augen zu verlieren. Zu Besuch auf einem Schulhof im Berliner Prenzlauer Berg.

Ein Oberstufenzentrum in der Berliner Pappelallee, Anfang September: Auf dem Schulhof parkt ein Campingbus, davor steht eine troddelbehängte Sofagarnitur, komplett mit Stehlampe. Es läuft leise Musik, die später jemand als �chillig� bezeichnen wird. Einige Tische mit Laptops stehen davor, und im Hintergrund hängt ein großes oranges Plakat mit den Fernseh-Klamaukern Erkan und Stefan. �Du hast das Wahl, Alter�, rufen sie dem Betrachter zu.

Erinnerung via SMS
Mit den auffälligen Plakaten, jeder Menge �Events� wie Grillen, Beachvolleyball, einer Schlammschlacht mit echten Politikern und einem beträchtlichen Auftrieb von Promis aus dem Popgeschäft versucht die studentische Initiative �Wahl-Gang� seit zwei Monaten, den �Ton der Jugendlichen zu treffen�, wie Geschäftsführer Daniel Holefleisch sagt. Der Politologie-Student an der FU Berlin versucht zusammen mit fast 80 Mitstreitern, Erstwähler zum Urnengang zu animieren. Das Projekt, erklärt er, begann zwar als Projektkurs im Bereich Politische Kommunikation, habe sich aber längst verselbstständigt.
In Zeiten der dauerdiagnostizierten �Politikverdrossenheit�, meint Holefleisch, müsse man sich jugendlichen �codes� anpassen, wenn man von diesen etwas wolle. Die �Wahl-Gang� ist nicht das einzige Erstwähler-Mobilisierungsprojekt dieser Sorte: Unter dem Label �vote� lässt die Musikindustrie juvenile Popstars für �Demokratie� werben, und der Bundestag selbst hat die Kampagne �Mitmisch�n� gestartet, die den Jugendlichen ihr Wahlrecht schmackhaft machen soll. Die �Wahl-Gang� ist aber das einzige dieser Projekte, das über Plakate und Werbespots hinausgeht, die Zielgruppe direkt anspricht.
Aber auch hier geht nichts ohne populäre Unterstützer. Neben Erkan und Stefan lächelt auch die Musikfernseh-Moderatorin Sara Kuttner von den knalligen Plakaten. Die Schirmherrschaft hat Sandra Maischberger übernommen, und die Gewinner eines �Wahl-Gang�-Preisausschreibens werden am Wahltag von TV-Größen wie Daniel Brühl oder Tom Novy zum Wahllokal kutschiert. Der Nebeneffekt: Alle Teilnehmer geben ihre Handy-Nummer ab und werden am 22.September per SMS an die Wahl erinnert. Zusätzlich wurden Radio- und Kinospots produziert: Man hoffe dabei auf den Wiedererkennungseffekt, erläutert eine Sprecherin im �Fluter�, dem neuen Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung. �Spätestens wenn sie unseren Trailer im Kino oder im TV sehen, werden sie an unsere Gespräche und das Infopäckchen in ihrem Rucksack erinnert. �Das ist doch die Wahl Gang, die waren doch bei uns in der Schule, cool!��
Eigentlich müssten die Zahlen für Erstwahl-Animateure niederschmetternd sein: �Bei den Erst- und Jungwählern gibt es die meisten Nichtwähler von allen Bevölkerungsgruppen�, sagt Jürgen Hofrichter vom Wahlforschungsinstitut Infratest. Bei den jungen Wahlberechtigten werde �die Beteiligungsrate für die bevorstehende Bundestagswahl etwa 10 bis 15 Prozentpunkte unter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung liegen�. Schon länger sind ein gutes Drittel der Nichtwähler zwischen 18 und 24 Jahre alt, bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfahlen 2000 waren gar 61 Prozent der Nichtwähler zum ersten Mal stimmberechtigt.
Als Spitzenreiter in jugendlicher Wahlabstinenz erwies sich bei der Bundestagswahl 1998 der Berliner Wahlbezirk 84, der aus Teilen der Stadtteile Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg besteht. In den �Szenevierteln� der Hauptstadt gab es nicht nur die größte Zahl an Erstwählern, sondern auch an jungen Wahlverweigerern. Deshalb konzentrieren sich die Stimmenfänger von der �Wahl-Gang� nach Absprache mit der Bundeszentrale für politische Bildung auf diesen Wahlkreis. Nach dem 22. September möchten die Bonner genau auswerten, inwieweit durch die zunächst ungeliebt poppige Kampagne das Erstwählerverhalten beeinflusst werden konnte.
Gründe für die Wahlphobie der Jungen weiß eigentlich niemand zu nennen. Etwas ratlos operieren Jugendsoziologen mit Begriffen wie �Individualisierung� oder �Tribalisierung�. Beschrieben aber wird das Phänomen oft genug; jüngst etwa in der Shell-Jugendstudie, die einmal mehr das Bild vom jeder Art der Verbindlichkeit oder Organisierung abholden und darüber hinaus desinteressierten und politisch nicht urteilsfähigen Jugendlichen zeichnete.
Daniel Holefleisch möchte demgegenüber lieber von �Wahl-� als von �Politikverdrossenheit� sprechen: Wählen ändere nichts, sei zwar eine weit verbreitete Ansicht, und hinter den Parteilogos vermuteten Jugendliche stets den erhobenen Zeigefinger, verstünden Parteien als Über-Eltern. Dass hingegen Politik �einfach alle betreffe�, sei Jugendlichen bei geeigneter Verpackung durchaus zu vermitteln.

Klarheit per Mausklick?
Die �Wahl-Gang�-Praxis scheint dafür auch Anhaltspunkte zu liefern, zumindest auf dem Schulhof in der Pappelallee: In der großen Pause füllt sich die Sitzecke überraschend schnell, und besonders vor den Bildschirmen versammeln sich die Schülerinnen und Schüler des Oberstufenzentrums. Bald beginnen sie sogar zu debattieren: Soll die NATO abgeschafft werden? Was ist unter Genomforschung zu verstehen, und ist dies wünschenswert? Soll es verpflichtende Integrationskurse für Einwanderer geben, sollen die Geschäfte auch Sonntags geöffnet haben? Sollen große Vermögen besteuert, soll die Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen verstärkt werden?
Was die Jugendlichen so sehr beschäftigt, ist der �Wahl-o-mat�: Ein kleines Computerspiel stellt dem Benutzer zwei Dutzend politisch aktuelle Fragen, zu denen sich vorher die Parteien positionieren konnten. Die Nutzer können einer These zustimmen, sie ablehnen oder sich neutral verhalten. Am Ende gibt der Computer eine Wahlempfehlung ab. Das kann funktionieren: Zumindest im Fall des Verfassers stimmte das Ergebnis mit der Wahlabsicht überein. Bei anderen rufen die Ergebnisse des Parteientesters allerdings Erstaunen hervor: �Ich soll also PDS wählen? Aber ich will doch in einer Bank arbeiten!�, wundert sich eine 19-Jährige, während ein Klassenkamerad bisher �wenn überhaupt� an die Union gedacht hatte, nun aber die SPD vorgeschlagen bekam und sich infolgedessen �nochmal erkundigen� möchte.
Das Vorbild für den �Wahl-o-mat� ist der �Stemwijzer�, der in Holland in nicht-digitaler Form bereits seit nahezu 30 Jahren zur Wählerorientierung benutzt wird. �Die Parteien werden so gezwungen, sich klipp und klar zu bestimmten Fragen zu äußern�, fasst Klaus Roggenkamp, der die deutsche Version für die �Wahl-Gang� programmiert hat, die Vorteile dieses �Tools� zusammen.
Beliebt ist das Orientierungs-Instrument: Seit Harald Schmidt Ende August seine Späße darüber machte, sind die Zugriffszahlen auf die im Internet zugängliche Entscheidungshilfe schnell in die Höhe gegangen: Schon in der ersten Septemberwoche war der 200000. Zugriff zu verzeichnen. Bei den Ergebnissen führt die FDP knapp vor der SPD.
�Natürlich ist der �Wahl-o-mat� nicht perfekt�, räumt Programmierer Roggenkamp angesichts dessen ein. Das Spiel sei kein Denkersatz, sagt er, und erst recht kein Umfrageinstrument. So ließen sich die vergleichsweise seltenen Empfehlungen des Automaten für die CDU/CSU damit erklären, dass die Unionsspitze auf die Fragen der �Wahl-Gang� viel zu oft �neutral� geantwortet habe. Zumindest an diesem Vormittag scheint es, als liebten Jugendliche klare Positionen.


www.wahl-gang.de

(ND 06.09.02)

Link: http://www.diewahlgang.de

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